Ich stehe am Fjellstua-Aussichtspunkt, während die Mitternachtssonne Ålesunds Jugendstilgebäude in goldenes Licht taucht. Unter mir erstreckt sich eine architektonische Anomalie: 89% der Innenstadt präsentiert sich im einheitlichen Jugendstil – die weltweit höchste Konzentration dieser Baukunst auf so engem Raum. Als ich die 418 Stufen vom Stadtzentrum heraufstieg, konnte ich kaum glauben, dass diese 59.198 Einwohner zählende norwegische Küstenstadt zwei außergewöhnliche Geheimnisse bewahrt: ihre nahezu komplette Neuerschaffung nach einem verheerenden Brand und ihre verborgene Rolle als „Little London“ während des Zweiten Weltkriegs.
Die 89%-Stadt: Wie ein verheerender Brand Ålesund zum Jugendstil-Wunder machte
Am 23. Januar 1904 verwüstete ein Großbrand fast die gesamte Holzstadt. Innerhalb von 15 Stunden wurden 850 Häuser zerstört und 10.000 Menschen obdachlos. Was folgte, war ein architektonisches Wunder von historischem Ausmaß.
„Det er så mye historie i hver bygning“ (Es steckt so viel Geschichte in jedem Gebäude), erklärt mir eine Mitarbeiterin des Jugendstilsenteret, während ich die ornamentreichen Fassaden fotografiere. Der komplette Wiederaufbau erfolgte in rekordverdächtigen drei Jahren – ein beispielloses Tempo für eine Stadtrekonstruktion dieser Größenordnung.
Was wenige wissen: Kaiser Wilhelm II., der Norwegen oft besuchte, sandte persönlich Schiffe mit Hilfsgütern und deutschen Architekten. Diese brachten den damals modernen Jugendstil mit, vermischten ihn aber mit typisch norwegischen Elementen wie Drachen, Wikingermotiven und maritimen Ornamenten.
„Man spürt beim Spaziergang durch die Straßen, dass jedes Gebäude eine Geschichte erzählt. Im Gegensatz zu anderen europäischen Städten mit vereinzelten Jugendstilbauten fühlt man sich hier wie in einem lebenden Architekturmuseum – aber ohne die Touristenmassen, die man in vergleichbaren Kunststädten ertragen muss.“
Little London: Das geheime Leben einer norwegischen Stadt im Zweiten Weltkrieg
Während ich durch die Kongens Gate schlendere, offenbart sich das zweite Geheimnis Ålesunds. Während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg erhielt die Stadt den Codenamen „Little London“ – ein Hinweis auf ihre Rolle als wichtiger Knotenpunkt des norwegischen Widerstands.
Der historische Molja-Leuchtturm am Hafeneingang, heute eine exklusive Hotelsuité, diente als symbolischer Orientierungspunkt für geheime Fluchtrouten nach Großbritannien. Versteckte Räume in Jugendstilgebäuden beherbergten Widerstandskämpfer, während scheinbar harmlose Fischkutter nachts Flüchtlinge und Informationen über den Nordatlantik schmuggelten. Ähnliche kulturelle Dualitäten finden sich auch in anderen europäischen Kleinstädten wie Malmedy in Belgien, wo Geschichte oft unter der Oberfläche schlummert.
Die Stadt dokumentiert ihre Vergangenheit akribisch, ähnlich wie die sächsische Stadt Schneeberg, die ihre 500-jährige Bergbaugeschichte bewahrt hat. Im Jugendstilsenteret kann man originale Baupläne und Fotografien des Wiederaufbaus bestaunen.
Architektonischer Weltrekord: Warum selbst Nancy in Frankreich neidisch sein könnte
Die französische Stadt Nancy gilt als europäische Jugendstil-Hochburg, doch Ålesunds Konzentration übertrifft sie bei weitem. Während Bad Elster mit 98% erhaltener königlicher Kurarchitektur beeindruckt, bietet Ålesund zusätzlich die dramatische Kulisse norwegischer Fjorde – eine Kombination, die weltweit einzigartig ist.
Was diese Architektur besonders macht: Die ca. 2.000 Gebäude entstanden in einer extrem kurzen Zeitspanne, wodurch ein einheitliches Ensemble geschaffen wurde. Kunsthistoriker nennen es den „norwegischen Jugendstil“ – eine einzigartige Variante mit maritimen Elementen, die die Fischereitradition der Stadt widerspiegeln.
Was die Reiseführer Ihnen nicht erzählen
Der beste Zeitpunkt für einen Besuch ist jetzt im Juni 2025, wenn die Mitternachtssonne die pastellfarbenen Fassaden bis spät in die Nacht beleuchtet. Mein Tipp: Steigen Sie gegen 22 Uhr zum Fjellstua-Aussichtspunkt hinauf – dann haben Sie den atemberaubenden Blick fast für sich allein, während die Touristengruppen längst beim Abendessen sitzen.
Nutzen Sie den Bytoget-Sightseeing-Train als Alternative zu den 418 Stufen. Für 120 NOK (ca. 10 €) erhalten Sie eine informative Fahrt mit Audioguide in sechs Sprachen. Von Ålesund aus können Sie auch den berühmten UNESCO-Welterbe Geirangerfjord besuchen, wo ein kleines Dorf mit nur 215 Einwohnern jährlich tausende Touristen empfängt.
Als ich mit meiner Kamera die letzten Sonnenstrahlen auf den Jugendstilornamentén einfange, denke ich an meine siebenjährige Tochter Emma, die die Trollstatuen an den Fassaden geliebt hätte. Meine Frau Sarah würde stundenlang die architektonischen Details fotografieren. Ålesund ist wie ein gut gehütetes Familienalbum Norwegens – jede Seite offenbart neue Details einer außergewöhnlichen Geschichte. Während die Mitternachtssonne den Himmel in Pastelltöne taucht, verstehe ich, warum die Norweger sagen: „I Ålesund snakker selv steinene“ – In Ålesund sprechen selbst die Steine.