Weniger bekannt als Dubrovnik, diese bosnische Stadt von 75.000 Einwohnern verbindet zwei Völker durch eine 29 Meter Brücke

Die Abendsonne gleitet über die kupfernen Dächer von Mostar, als ich das erste Mal die 29 Meter hohe Silhouette des Stari Most erblicke. Nach einer zweieinhalb-stündigen Fahrt von Dubrovnik stehe ich nun an den Ufern der eiskalten Neretva, deren smaragdgrüne Wasser sich 20 Meter unter der Brücke in atemberaubender Klarheit erstrecken. Diese Brücke ist nicht nur ein architektonisches Wunder, sondern trägt eine 420 Jahre alte Tradition in sich – eine Mutprobe, die nur die Mutigsten wagen: den rituellen Sprung von der Brückenmitte in die kalten Fluten darunter.

Die 29-Meter-Mutprobe: Warum Männer seit Jahrhunderten in den eiskalten Fluss springen

Der erste Brückenspringer, den ich treffe, ein stämmiger Mann Anfang 30, bereitet sich sorgfältig vor. „Es geht nicht darum, einfach zu springen“, erklärt er mir, während er sich mit Wasser benetzt. „Die Wassertemperatur liegt bei nur 8 bis 13 Grad Celsius, selbst im Hochsommer. Ohne Vorbereitung kann der Temperaturschock tödlich sein.“

Das Brückenspringen ist kein touristisches Spektakel, sondern ein seit 1981 organisierter Wettbewerb mit strengen Regeln. Jeder Springer muss eine medizinische Untersuchung bestehen, bevor er teilnehmen darf. Die Familie meines Gesprächspartners springt seit drei Generationen – eine Tradition, die älter ist als die politischen Grenzen des Landes.

Vom Ufer aus beobachte ich, wie er elegant von der höchsten Stelle abspringt. Seine Körperhaltung muss perfekt sein, denn das Wasser ist nur 4 Meter tief. Ein falscher Sprung kann zu schweren Verletzungen führen. Die Zuschauer halten den Atem an. Dann durchbricht er das Wasser wie ein Messer – ein perfekter Sprung.

„Jeder Sprung verbindet uns mit unseren Vorfahren. Als die Brücke im Krieg zerstört wurde, verloren wir mehr als nur Steine – wir verloren ein Stück unserer Seele. Jetzt, mit jedem Sprung, heilen wir ein bisschen mehr.“

Zerstört im Krieg, wiederbelebt im Frieden: Die symbolische Reise der Alten Brücke

Während ich über die rekonstruierte Brücke gehe, berühre ich die Steine, von denen 60% original sind – manche tragen noch die Narben des Krieges. Die Stari Most wurde 1993 gezielt zerstört und 2004 unter UNESCO-Aufsicht wieder aufgebaut. Ähnlich wie das UNESCO-Weltkulturerbe in Kroatien verbindet Mostars Brücke venezianische Einflüsse mit lokaler Kultur, trägt jedoch eine viel tiefere Kriegsnarbe.

Die 29 Meter Spannweite dieser Brücke ist für Bosnien-Herzegowina ein Symbol nationaler Identität, ähnlich wie die 30-Meter-Christusstatue für Brasilien. Der Unterschied? Diese Brücke verbindet nicht nur physisch zwei Stadtteile, sondern symbolisch zwei Völker48,4% Kroaten auf der einen Seite und 44,1% Bosniaken auf der anderen.

Die türkisblaue Neretva unter der Brücke erinnert an exotischere Gewässer, wie die historischen Maya-Strände in Mexiko, überrascht jedoch mit eiskalten Temperaturen. Diese Kälte ist Teil des Mysteriums – der Fluss wirkt wie ein natürliches Ritual der Reinigung für die Springer.

Was die Reiseführer Ihnen nicht erzählen

Um die Brücke ohne Menschenmassen zu erleben, kommen Sie vor 7 Uhr morgens. Das Licht ist dann magisch, und Sie können die handgefertigten Details der osmanischen Steinmetzkunst bewundern. Die meisten Reisegruppen treffen erst gegen 10 Uhr ein, oft als Tagesausflug von Dubrovnik.

Der beste Fotospot ist nicht auf der Brücke selbst, sondern vom Lucki Most aus – eine kleine Nebenbrücke, die meist übersehen wird. Von dort fangen Sie die Brücke und den türkisfarbenen Fluss in einem perfekten Winkel ein, besonders in den goldenen Abendstunden.

Für diejenigen, die tiefer in die Geschichte eintauchen möchten, bietet das Museum of War and Genocide Victims erschütternde Einblicke. Es liegt nur 5 Gehminuten von der Brücke entfernt und erklärt den Kontext der Zerstörung weit besser als jeder Reiseführer.

Mostar erlebt zwar nicht die extremen Besucherzahlen wie das griechische Oia, steht aber vor ähnlichen Herausforderungen beim Gleichgewicht zwischen Tourismus und Authentizität. Mit nur 75.000 Einwohnern in der Kernstadt und jährlich steigenden Besucherzahlen bleibt die Frage, wie lange die ruhige Atmosphäre erhalten bleibt.

Als ich meine Kamera einpacke und einen letzten Blick auf die Silhouette der Brücke im Abendlicht werfe, denke ich an meine Tochter Emma. „Das wäre ein perfekter Ort, um ihr den Wert von Wiederaufbau und Versöhnung zu zeigen,“ flüstere ich zu Sarah, die neben mir Fotos macht. In Mostar ist die Brücke nicht nur ein Übergang zwischen zwei Ufern – sie ist eine Schwelle zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Zerstörung und Hoffnung. Wie die Mostarer sagen würden: „Nije most samo kamen“ – Eine Brücke ist nicht nur aus Stein.