Ich stehe in einer steilen Gasse der Altstadt von Marburg, umgeben von mittelalterlichen Fachwerkhäusern, in denen Studenten statt Touristen ein- und ausgehen. Bei 78.200 Einwohnern besitzt diese hessische Kleinstadt eine der ältesten Universitäten Deutschlands, gegründet vor fast 500 Jahren. Was mich verblüfft: Der Ort steht 2025 vor einem Wendepunkt. Die UNESCO-Welterbebewerbung als „Prototyp einer europäischen Universitätsstadt“ könnte Marburg ins internationale Rampenlicht katapultieren – ein Zeitfenster schließt sich.
Ein Student schiebt sein Fahrrad vorbei. „Folgen Sie der Oberstadt hinauf,“ rät er mir. Ich entscheide mich gegen die 400 steilen Stufen und nehme den versteckten Oberstadtaufzug. Oben angekommen offenbart sich eine Symbiose aus Wissenschaft und Geschichte, die in Deutschland ihresgleichen sucht.
Die 78.200-Einwohner-Stadt mit 500 Jahren wissenschaftlicher Innovation
Marburg wurde 1527 zur ersten protestantischen Universität der Welt, als Landgraf Philipp der Großmütige die Philipps-Universität gründete. Die Besonderheit: Keine Trennung zwischen Stadt und Universität. Während Freiburg als grüne Universitätsstadt bekannt wurde, entwickelte Marburg sein einzigartiges Profil als mittelalterliches Wissenschaftszentrum.
Die Universitätsgebäude sind in historische Fachwerkhäuser integriert – keine isolierten Campusanlagen, sondern lebendige Verschmelzung. Ähnlich wie Oberammergau mit seinem historischen Gelübde hat auch Marburg seine akademischen Traditionen über Jahrhunderte bewahrt.
Ich betrete ein Fachwerkhaus, das sich als Universitätsbibliothek entpuppt. Marburgs Fachwerkarchitektur bildet zusammen mit der universitären Nutzung ein einzigartiges Ensemble, vergleichbar mit der Fachwerkdichte in Quedlinburg.
Warum Marburg der Prototyp ist, den Oxford und Cambridge kopierten
Oxford und Cambridge sind weltberühmt, doch Marburg bietet eine vollständigere Integration von Wissenschaft und Stadtleben. Der Unterschied: In Marburg gibt es keine physische Trennung zwischen Universität und Stadt. Das Landgrafenschloss thront in 250 Metern Höhe über der Stadt und beherbergt heute universitäre Einrichtungen und ein Museum.
„In Oxford fühlt man sich als Tourist. In Marburg sitzt man im Café neben Professoren, die ihre Seminare vorbereiten. Hier lebt die Wissenschaft mitten unter uns, nicht hinter Mauern.“
Die Elisabethkirche, eine der frühesten gotischen Kirchen Deutschlands, dient nicht nur als Touristenattraktion, sondern wird für Universitätskonzerte genutzt. Marburg teilt mit anderen versteckten Juwelen wie den rheinhessischen Dörfern den authentischen Charakter abseits der Touristenströme.
UNESCO-Bewerbung 2024-2025: Das letzte Jahr der Authentizität?
Der Sommer 2025 markiert möglicherweise die letzte Chance, Marburg vor der internationalen Anerkennung zu erleben. Die Stadt bereitet sich auf die UNESCO-Entscheidung vor, die ihre Besucherzahlen drastisch verändern könnte.
Ich begegne einer Gruppe von nur vier Touristen auf dem Marktplatz – in einer Stadt, die anderswo Menschenmassen anziehen würde. Die Studenten-Cafés sind voll, aber nicht mit Besuchern, sondern mit echtem akademischen Leben. Dieses Gleichgewicht könnte sich nach 2025 verschieben.
Die UNESCO-Bewerbung konzentriert sich auf die 500-jährige Symbiose zwischen Stadt und Universität. Marburgs Status als „Prototyp“ könnte ähnliche Entwicklungen wie bei anderen UNESCO-Städten auslösen: mehr internationale Besucher, höhere Preise, aber auch besserer Erhalt des kulturellen Erbes.
Sieben Erlebnisse, die nur in Marburg möglich sind
Während meiner Erkundung entdecke ich mehrere Erlebnisse, die die Stadt einzigartig machen. Der Botanische Garten der Universität zählt zu den ältesten in Deutschland und ist kostenfrei zugänglich. Das erste deutsche Polizeiauto-Museum zeigt historische Streifenwagen – ein Insidertipp für Liebhaber.
Die Lahn, die durch Marburg fließt, bietet Kajaktouren für Naturliebhaber. Die umgebende Natur lässt sich auf Wanderwegen erkunden, ähnlich wie die stetig beliebter werdenden Rheinsteige.
Besuchen Sie unbedingt die Studentenkneipen in der Oberstadt, wo Sie wahrscheinlich der einzige Tourist sein werden. Der Oberstadtaufzug ist kostenlos und erspart Ihnen den Aufstieg. Am besten erkunden Sie die Stadt früh morgens oder nach 17 Uhr, wenn die meisten Touristen weg sind.
Als ich abends durch die Gassen zurückspaziere, fällt mir auf, wie authentisch Marburg geblieben ist. Meine Frau Sarah, die normalerweise Oxford fotografiert, würde hier Fachwerkhäuser finden, in denen tatsächlich gelehrt wird statt Souvenirs verkauft zu werden. Marburg ist keine Kulisse, sondern lebendige Wissenschaftsgeschichte. Wie ein jahrhundertealtes Buch, das nicht im Museum verstaubt, sondern täglich gelesen wird.