Der Schneesturm hatte kaum nachgelassen, als ich am Bahnhof von Mittenwald ankam. Ein unscheinbares alpines Dorf mit gerade einmal 7.372 Einwohnern in 911 Metern Höhe. Was ich nicht ahnte: Hinter den bunt bemalten Fassaden verbirgt sich ein kulturelles Mysterium, das seit 350 Jahren die Musikwelt prägt. Von hier aus, 90 Kilometer südlich von München, werden Meistergeigen in die renommiertesten Konzertsäle der Welt geliefert.
Die 350-jährige Geigenbaustätte, die weltberühmte Orchester versorgt
Während in den engen Gassen kaum jemand unterwegs ist, höre ich bereits aus mehreren Werkstätten das feine Kratzen von Schnitzmessern auf Holz. Seit 1684 werden hier Geigen hergestellt, begründet durch Matthias Klotz, der sein Handwerk in Italien erlernte und in diesem Alpendorf eine Tradition schuf, die bis heute lebendig ist.
„Unsere Instrumente klingen anders als andere,“ erklärt mir ein Meister in seiner winzigen Werkstatt. Er dreht behutsam eine halbfertige Geige in seinen kräftigen Händen. „Das Holz aus dem Karwendelgebirge hat besondere Resonanzeigenschaften. Nur hier finden wir die richtigen Bäume.“
Die Zahlen sind beeindruckend: In diesem kleinen Ort mit kaum mehr Einwohnern als ein großes Dorf werden jährlich hunderte handgefertigte Streichinstrumente produziert. In der Geigenbauschule, gegründet von König Maximilian II., werden nur wenige auserwählte Schüler aufgenommen – ein Privileg, das für die Bewahrung dieser Kunst sorgt.
Mittenwald versus Cremona: Das versteckte Geigenzentrum der Alpen
Während Cremona in Italien weltberühmt für Stradivari-Violinen ist, bleibt Mittenwald ein Insidertipp für Kenner. Hier entdecke ich, wie die Klotz-Dynastie über acht Generationen ihr Handwerk verfeinerte und damit ähnlich wie andere bayerische Dörfer mit jahrhundertealter Tradition eine kulturelle Identität schuf, die bis heute besteht.
„Wer einmal in einer Mittenwalder Werkstatt stand und den Duft von Fichtenholz und Lack eingeatmet hat, versteht plötzlich, warum diese Geigen so besonders klingen. Es ist, als ob die Berge selbst in ihnen singen würden.“
Im Geigenbaumuseum mit über 200 historischen Instrumenten wird deutlich, dass Mittenwalds kulturelles Erbe in einer Reihe mit anderen deutschen Kulturschätzen steht, jedoch ohne den Massentourismus, der viele Welterbestätten belastet.
Die farbenprächtigen Lüftlmalerei-Fassaden bilden einen lebendigen Rahmen für diese Kulturgeschichte. Goethe beschrieb Mittenwald 1786 als „lebendiges Bilderbuch“ – ein Eindruck, der nach über zwei Jahrhunderten noch immer zutrifft.
Sommer 2025: Geigenbaumarkt-Festival und alpine Erkundungen
Für den Juli 2025 plant Mittenwald sein traditionelles Geigenbaumarkt-Festival – ein seltenes Ereignis, bei dem Handwerkskunst, Konzerte und bayerische Kulinarik zusammenfinden. Die beste Zeit für einen Besuch liegt zwischen Mai und September, wenn die Karwendelbahn leichten Zugang zu atemberaubenden Alpenpanoramen bietet.
Naturliebhaber sollten die Leutaschklamm erkunden – mit 1.640 Metern Länge eine der spektakulärsten zugänglichen Schluchten Deutschlands. Für Wanderer bieten sich im Gegensatz zu bekannteren deutschen Fernwanderwegen ruhige Pfade zu versteckten Bergseen wie dem Ferchensee und Wildensee.
Frühmorgens um 7 Uhr oder nachmittags nach 16 Uhr sind die Gassen am ruhigsten – perfekt, um die mystische Atmosphäre ohne Tagestouristen zu erleben. Parken Sie am besten am Bahnhofsplatz (kostenlos bis zu 3 Stunden) und erkunden Sie den Ort zu Fuß.
Was die Reiseführer Ihnen nicht erzählen
Das versteckte Juwel Mittenwalds ist die König-Aethiop-Legende im Stadtwappen – ein Symbol, das an die mittelalterliche Verbindung zum Fürstbistum Freising erinnert und in ganz Süddeutschland einzigartig ist. Entdecken Sie auch das verschwundene Grab von Matthias Klotz im Kirchturm der St.-Nikolaus-Kirche – ein lokales Mysterium, das die Handwerksmythologie lebendig hält.
Im Gegensatz zu anderen mystischen Naturorten Süddeutschlands bietet der Kranzberg im Frühsommer seltene Orchideenblüten – ein klares Indiz für die unberührte Natur dieser Region.
Als ich mit meiner Frau Sarah am späten Nachmittag durch die Obermarktstraße schlendere, fällt mir auf, wie anders Mittenwald im Vergleich zu anderen Alpendörfern wirkt. Während meine siebenjährige Tochter Emma im Geigenbaumuseum fasziniert einer Instrumentenvorführung lauscht, verstehe ich: Hier schwingt in jeder Fassade, in jedem Werkzeuggeräusch die Seele eines Ortes mit, der seine Tradition nicht nur bewahrt, sondern täglich neu belebt.
Wie die Resonanzhölzer, die jahrelang lagern müssen, bevor sie zu Instrumenten werden, braucht auch Mittenwald Zeit, um sein wahres Wesen zu offenbaren. Wer diese Zeit mitbringt, wird mit einem Klangerlebnis belohnt, das weit über das Sichtbare hinausgeht.