Der Wind streift sanft über mein Gesicht, als ich durch das 800 Jahre alte Stadttor schreite. Vor mir entfaltet sich Saint-Valery-sur-Somme, ein französisches Küstendorf mit gerade einmal 3.000 Einwohnern, dessen mittelalterliche Gassen wie ein lebendiges Geschichtsbuch wirken. Ich stehe genau dort, wo Wilhelm der Eroberer 1066 seine Flotte sammelte, bevor er England für immer veränderte. Kaum zu glauben, dass auf nur 12,09 Quadratkilometern so viel Weltgeschichte konzentriert ist.
Die Morgensonne taucht die Baie de Somme in goldenes Licht, während ich die ersten Austernfischer bei ihrer Arbeit beobachte. Die Flut zieht sich zurück und enthüllt eine Landschaft, die seit Jahrhunderten nahezu unverändert geblieben ist. Meine Frau Sarah würde diese Lichtstimmung lieben – perfekt für ihre Fotografie-Sammlung über versteckte europäische Küstenperlen.
Die vergessene Wiege der englischen Geschichte – mit 70% mittelalterlicher Bausubstanz
Was Saint-Valery-sur-Somme von anderen historischen Orten unterscheidet: Auf engstem Raum sind über 70% der ursprünglichen mittelalterlichen Bausubstanz erhalten geblieben. Ich streife durch die Gassen des Viertels Courtgain, wo Fischerhäuser aus dem 15. Jahrhundert stehen, als wäre die Zeit stehengeblieben.
Die berühmte Porte Guillaume aus dem 11. Jahrhundert – benannt nach Wilhelm dem Eroberer – erzählt von jenem Schicksalstag, als der normannische Herzog mit 696 Schiffen gen England aufbrach. Ähnlich wie die mittelalterliche Stadtmauer in Rothenburg ob der Tauber ist auch hier jeder Stein ein Zeitzeuge, doch mit einem entscheidenden Unterschied: Der maritime Charakter verbindet Festungsarchitektur mit Küstenromantik.
Während ich die alten Stadtmauern entlanglaufe, entdecke ich versteckte Durchgänge und winzige Kapellen. Ein lokaler Fischer erklärt mir, dass diese Mauern nicht nur zum Schutz dienten, sondern auch 3 Meter hohe Fluten abhalten konnten – frühe Vorläufer moderner Deichsysteme.
Warum dieser Ort Frankreichs bestgehütetes Geheimnis bleibt
Anders als das überlaufene Mont-Saint-Michel empfängt Saint-Valery seine Besucher ohne Touristenmassen und überteuerte Restaurants. Hier spürt man noch das echte Nordfrankreich. Die Chapelle des Marins mit ihren maritimen Fresken erzählt vom harten Leben der Seeleute statt von kommerzialisierten Legenden.
„Während die Besucher in anderen historischen Orten zwischen Selfie-Sticks navigieren müssen, kann man hier noch allein auf der Stadtmauer stehen und die gleiche Aussicht genießen wie Wilhelm vor fast 1000 Jahren. Diese Echtheit ist unbezahlbar.“
Mit 70% erhaltener historischer Bausubstanz steht Saint-Valery-sur-Somme anderen europäischen Juwelen wie Split in Kroatien in nichts nach. Während ich durch das malerische Herbarium des Remparts schlendere – einen versteckten botanischen Garten innerhalb der Stadtmauern – begreife ich, warum dieser Ort so besonders ist.
Das Picarvie-Museum dokumentiert alte Handwerkstraditionen der Picardie mit originalen Werkzeugen und Werkstätten. Besonders faszinierend: die Ausstellung über die lokale Seilerei, die einst die Taue für Wilhelms Eroberungsflotte hergestellt haben soll.
Was die Reiseführer Ihnen nicht erzählen
Der beste Zeitpunkt für einen Besuch ist definitiv der 19. und 20. Juli 2025 während des Fêtes Guillaume Festivals. Dann erwacht die mittelalterliche Geschichte bei Nachstellungen, Handwerkermärkten und historischen Darbietungen zum Leben. Gleichzeitig bietet die Baie de Somme im Sommer optimale Bedingungen für Robbensichtungen.
Parken Sie am besten am kostenlosen Parkplatz nahe der Porte de Nevers und erkunden Sie die Stadt zu Fuß. Für ein authentisches Erlebnis empfehle ich eine Tour mit dem Chemin de Fer de la Baie de Somme – einer nostalgischen Dampfbahn, die Saint-Valery mit dem Nachbarort Le Crotoy verbindet.
Ähnlich wie an der französischen Atlantikküste auf der Île de Ré hat auch Saint-Valery-sur-Somme es geschafft, seinen authentischen Charakter zu bewahren. Gönnen Sie sich unbedingt frische Moules-frites mit schwarzer Mandelbutter – eine lokale Spezialität, die nur wenige Restaurants nach traditionellem Rezept zubereiten.
Für Naturliebhaber: Die beste Zeit zur Robbensichtung ist eine Stunde vor Ebbe am steinigen Ufer der Bucht. Lokale Fischer verraten diesen Tipp normalerweise nur Insidern.
Als ich Saint-Valery-sur-Somme verlasse, nehme ich das Gefühl mit, einen Ort entdeckt zu haben, der seine Seele nicht dem Massentourismus geopfert hat. Meine siebenjährige Tochter Emma würde die historischen Nachstellungen beim Fêtes Guillaume lieben – nächsten Sommer werden wir definitiv zurückkehren. Dieses kleine Küstendorf hat die Weltgeschichte verändert und bewahrt sein Erbe wie einen kostbaren Schatz: sichtbar für alle, die bereit sind, abseits der ausgetretenen Pfade zu suchen.