Der Regen tropft von den Tannen, als ich auf dem schmalen Waldpfad den ersten Blick auf das erhasche, was Einheimische ehrfürchtig die „technische Königin des Schwarzwalds“ nennen. Vor mir öffnet sich die Ravennaschlucht, wo ein 37 Meter hohes Viadukt majestätisch über einer wildromantischen Klamm thront. Hier, nur 30 Kilometer östlich von Freiburg, hat Breitnau mit seinen bescheidenen 2.300 Einwohnern etwas Außergewöhnliches zu bieten: die einzige beheizbare Eisenbahnbrücke Deutschlands, die über schäumende Wasserfälle und dichten Schwarzwald wacht.
Ein 224 Meter langes Meisterwerk thront über unberührter Wildnis
Diese imposante Brücke ist kein gewöhnliches Bauwerk. Mit 224 Metern Länge und 9 gleichmäßigen Bögen erscheint das Ravennaviadukt wie aus einer anderen Zeit. Was die wenigsten wissen: Unter der täuschenden Granitfassade verbirgt sich ein Betonkern, ein Ingenieurswunder der 1920er Jahre.
Die Pfeiler reichen bis zu 30 Meter tief in den felsigen Untergrund, um auf stabilem Gneis zu ruhen. Dies war notwendig, da die Schuttböden der Schlucht allein das massive Bauwerk nicht tragen könnten. Die technische Besonderheit jedoch, die selbst erfahrene Schwarzwaldwanderer überrascht: Das gesamte Viadukt ist vollständig beheizbar.
„Im Winter, wenn Schnee und Eis den Schwarzwald bedecken, erwärmt ein komplexes System die Brücke und verhindert gefährliche Eisbildung,“ flüstert mir ein älterer Herr zu, während wir gemeinsam das architektonische Wunderwerk betrachten. „Die Züge müssen diese 5-prozentige Steigung sicher bewältigen können – bei jedem Wetter.“
Geschichte in Stein: Gesprengt 1945, heute ein lebendes Monument
Die Geschichte des Viadukts ist so dramatisch wie seine Erscheinung. 1945 gesprengt von zurückweichenden deutschen Truppen, wurde sie zwischen 1947 und 1948 wieder aufgebaut. Beim Wandern entlang der Schlucht entdecke ich die verbliebenen Widerlager der ursprünglichen Brücke von 1885 – stille Zeugen einer längst vergangenen Ära.
Die technische Meisterleistung erinnert an andere beeindruckende Gebirgsstrecken wie den Stilfser Joch mit seinen 48 spektakulären Haarnadelkurven. Doch während dort Autos dominieren, ist hier die Bahn Hauptakteur in einem natürlichen Amphitheater.
„Wer hierher kommt, erlebt zwei Welten gleichzeitig: die unberührte Kraft der Natur und menschliche Ingenieurskunst in perfekter Harmonie. Die meisten Touristen verpassen diesen Ort – zum Glück für uns, die ihn zu schätzen wissen.“
Unter der Brücke schlängelt sich ein kristallklarer Bach durch die enge Schlucht, bildet mehrere kleine Wasserfälle und schafft eine fast mystische Atmosphäre. Ähnlich wie bei den isländischen Basaltsäulen von Arnarstapi ranken sich auch um die Ravennaschlucht lokale Legenden über Waldgeister und verborgene Schmugglerpfade.
Warum 2025 die ideale Zeit für einen Besuch ist
Der Juni markiert den perfekten Zeitpunkt für eine Wanderung durch diese versteckte Perle. Während der Rheinsteig 2025 bereits 35% mehr Besucher anzieht, bleibt die Ravennaschlucht ein Geheimtipp mit authentischem Charakter.
Nach den Frühsommerregen führen die Bäche reichlich Wasser, die Wasserfälle zeigen sich in voller Pracht, und der Wald erstrahlt in saftigem Grün. Die Temperaturen liegen angenehm bei 15-20°C – ideal für eine Wanderung ohne übermäßiges Schwitzen oder Frieren.
Der Wanderweg selbst ist ein Abenteuer für die ganze Familie. Holzstege, kleine Brücken und Treppen führen durch die Schlucht, vorbei an plätschernden Bächen und unter dem majestätischen Viadukt hindurch. Kinder lieben die spielerischen Elemente des Weges, während Erwachsene die technische Raffinesse der Brückenkonstruktion bewundern können.
Was die Reiseführer Ihnen nicht erzählen
Der beste Zugang zur Schlucht erfolgt über den Parkplatz Höllsteig an der B31 zwischen Hinterzarten und Himmelreich. Von hier aus ist es ein kurzer 10-Minuten-Abstieg zum Eingang der Schlucht. Alternativ parken Sie beim Hofgut Sternen, wo Sie zudem traditionelle Schwarzwälder Glasbläser bei der Arbeit beobachten können.
Besuchen Sie die Schlucht am frühen Morgen (vor 10 Uhr) oder am späten Nachmittag (nach 16 Uhr), um die großen Wandergruppen zu vermeiden. Die naturnahe Erfahrung ähnelt dem Konzept autofreier Destinationen wie Wangerooge an der Nordsee – unberührt und authentisch.
Während Emma, meine 7-jährige Tochter, begeistert über die Holzstege hüpft, denke ich daran, wie selten solche Orte geworden sind – wo Technik und Natur nicht im Widerspruch stehen, sondern sich gegenseitig erhöhen. Wie die Einheimischen sagen würden: „S’isch a Plätzle wo d’Seel badet“ – ein Ort, wo die Seele badet. In einer Welt voller überlaufener Touristenattraktionen ist die Ravennaschlucht ein kostbares Juwel, das seine Geheimnisse nur denjenigen offenbart, die bereit sind, vom ausgetretenen Pfad abzuweichen.