Ich stehe auf dem Marktplatz von Coburg, umgeben von pastellfarbenen Renaissance-Gebäuden und blicke zur mächtigen Veste Coburg auf dem Hügel – eine der größten Burganlagen Deutschlands. Was mich verblüfft: Diese Kleinstadt mit gerade einmal 42.139 Einwohnern erwirtschaftet jährlich 85 Millionen Euro Gewerbesteuereinnahmen und beherbergt dennoch ein weitgehend unentdecktes architektonisches Juwel im Herzen Bayerns. Während Bamberg von Touristen überlaufen wird, liegt Coburgs Altstadt mit ihren 50% denkmalgeschützten Gebäuden wie ein offenes Geheimnis vor mir.
Die Stadt der 85 Millionen und das wirtschaftliche Paradoxon
Coburg ist ein faszinierendes Rätsel: Die Stadt mit der höchsten Gewerbesteuerkraft pro Kopf in ganz Bayern kämpft gleichzeitig mit einem strukturellen Haushaltsdefizit von 3 Millionen Euro. Dieses wirtschaftliche Paradoxon fasziniert mich als Reisejournalist seit Jahren.
Der Kontrast wird deutlich, als ich an der HUK-Coburg vorbeilaufe – dem Versicherungsriesen, der allein 5.500 Mitarbeiter in der Stadt beschäftigt. Das sind etwa 13% der Gesamtbevölkerung! Während Eschweiler mit 89% Grünflächen in ehemaligen Industriegebieten eine andere Form der deutschen Stadtentwicklung zeigt, verbindet Coburg historisches Erbe nahtlos mit moderner Wirtschaftskraft.
Der lokale Stadtführer erklärt mir: „In keiner anderen deutschen Stadt dieser Größe findet man diesen seltsamen Mix aus fürstlicher Vergangenheit und wirtschaftlicher Gegenwart.“ Während meines Rundgangs entdecke ich, dass dieses wirtschaftliche Geheimnis kaum Auswirkungen auf den Tourismus hat – die Altstadt bleibt selbst im Hochsommer angenehm unüberlaufen.
Veste Coburg: Eine Burganlage, die Neuschwanstein in den Schatten stellt
Von der Renaissance-Pracht des Marktplatzes führt mein Weg hinauf zur Veste Coburg, die auf 167 Metern Höhe über der Stadt thront. Mit ihren 165 Räumen und dem imposanten Burggraben ist sie architektonisch vergleichbar mit den Burgen im Dahner Felsenland, wo 16 mittelalterliche Festungen die deutsche Burgentradition fortsetzen.
Was die Veste besonders macht: Sie beherbergte einst Martin Luther, der hier während des Augsburger Reichstags 167 Tage verbrachte. Die Kunstsammlungen umfassen eine der bedeutendsten Waffensammlungen Europas und eine beeindruckende Glaskunstausstellung – alles ohne die Besuchermassen von Neuschwanstein.
„Ich komme seit Jahren hierher und staune jedes Mal, wie ich diese Weltklasse-Burg fast für mich allein haben kann. In Neuschwanstein stünde ich Stunden an, hier kann ich in Ruhe die Geschichte atmen.“
Von den Burgmauern aus schweift mein Blick über die Landschaft des Fränkischen Jura, wo im Sommer seltene Orchideen blühen. Meine Frau Sarah, die sonst die Kamera nicht aus der Hand legt, steht einfach nur da und genießt die Stille – ein seltener Moment in unseren Reiseerfahrungen.
Was die Reiseführer Ihnen nicht erzählen
Der beste Weg, Coburg zu erleben, führt über den Herzogsweg, einen wenig bekannten Wanderpfad, der vom Hofgarten zur Veste führt. Parken Sie kostenlos am Bürglaßschlösschen und besuchen Sie die Burg am frühen Morgen vor 10 Uhr, wenn die wenigen Touristenbusse noch nicht eingetroffen sind.
Die Coburger Bratwurst, traditionell auf Kiefernzapfen gegrillt, sollten Sie nicht am Marktplatz, sondern in der kleinen Metzgerei an der äußersten Gasse des Wochenmarkts probieren. Während Marktbreit mit 70% Fachwerkarchitektur einen ergänzenden Einblick in fränkische Baukunst bietet, punktet Coburg mit seinem einzigartigen Renaissance-Ensemble.
Besuchen Sie unbedingt das Münzmeisterhaus, das als ältestes Fachwerkhaus Deutschlands gilt und einst die Münzprägestätte der Herzöge beherbergte. Die historische Bedeutung ist vergleichbar mit Weimars kultureller Dichte, wo ebenfalls deutsche Geschichte auf engem Raum erlebbar ist.
Während Emma, meine 7-jährige Tochter, fasziniert die Legenden um versteckte Gänge unter der Veste erkundet, denke ich an die vielen überlaufenen Touristenstädte Europas. Coburg ist wie ein gut gehütetes Familiengeheimnis – ein Ort, der sich seinen Besuchern nicht aufdrängt, sondern sie einlädt, selbst zu entdecken. Hier, inmitten der fränkischen Landschaft, ruht ein Stück Deutschland, das seine Seele nicht an den Massentourismus verkauft hat.