Ich stehe am Rand der kleinen Felsenklippe, während die MS Oldenburg sich vom Kai Lundys entfernt. Hinter mir erstreckt sich eine wilde Insel von gerade einmal 4,51 Quadratkilometern, auf der nur 28 Menschen dauerhaft leben – und doch empfängt sie jährlich 20.000 Besucher. Das Verhältnis ist verblüffend: Auf jeden Einwohner kommen 714 Touristen pro Jahr. Doch hier, im Bristolkanal zwischen Devon und Wales, hat England sein bestgehütetes Naturparadies geschaffen.
Die Sonne glitzert auf den Klippen, während ein Paar Papageitaucher – auf Altnordisch „Lundi“, woher der Inselname stammt – an mir vorbeifliegt. Es ist dieser kontrastreiche Mix aus rauer Natur, historischer Tiefe und absoluter Ruhe, der mich nach zehn Jahren Reisejournalismus immer noch fasziniert.
Englands natürliche Anomalie: 28 Einwohner bewahren 40+ historische Denkmäler
Lundy ist kein gewöhnliches Reiseziel. Als erste gesetzliche Meeresschutzreserve Englands seit 2003 beherbergt diese kleine Insel eine außergewöhnliche Dichte an historischem und natürlichem Reichtum. Auf knapp fünf Quadratkilometern finden sich über 40 historische Denkmäler – von einer Burg aus dem 13. Jahrhundert bis zu bronzezeitlichen Siedlungsresten.
Was mich besonders beeindruckt: Die Insel beherbergt die drittgrößte Klippenbrutkolonie Englands. „Die Papageitaucher kommen jedes Jahr ab Mitte März zurück“, erklärt mir der Inselwart während meiner Erkundungstour. Mit seinen 4 Einwohnern hat auch das deutsche Wattenmeer-Paradies Hallig Süderoog eine ähnlich geringe Bevölkerungsdichte, doch Lundys einzigartige Kombination aus Naturschutz und historischem Erbe sucht ihresgleichen.
Während meiner Wanderung entlang der Ostküste treffe ich genau drei Menschen – alle Besucher, keinen Einheimischen. Die Stille ist fast greifbar. Nur das Kreischen der Vögel und das entfernte Rauschen der Wellen durchbrechen die Ruhe.
Vom Piraten-Unterschlupf zum Vogelparadies: Die unwahrscheinliche Transformation
Die Geschichte Lundys liest sich wie ein Abenteuerroman. Im 17. und 18. Jahrhundert diente die Insel als Unterschlupf für Piraten, die von hier aus Handelsschiffe im Bristolkanal überfielen. Die historischen Überreste erzählen faszinierende Geschichten, ähnlich wie die mittelalterlichen Burgen versteckter europäischer Regionen.
Besonders mysteriös: Während des Zweiten Weltkriegs stürzten zwei deutsche Heinkel-Bomber bei Lundy ab. Ihre Wracks liegen noch immer in den Gewässern um die Insel und sind bei Tauchern beliebt – wenn auch streng reguliert zum Schutz des marinen Ökosystems.
Es gibt Orte, an denen man das Gefühl hat, dass die Zeit anders vergeht. Auf Lundy zählen nicht Stunden, sondern Gezeiten und Jahreszeiten. Nach drei Tagen hier verstand ich endlich, was echte Entschleunigung bedeutet.
Die Transformation vom Piratenunterschlupf zum Naturschutzgebiet ist bemerkenswert. Seit der Ernennung zur Meeresschutzreserve haben sich die Seevogelpopulationen erholt. Tausende Manx-Schwalben nutzen die Insel als Brutplatz – ein nächtliches Spektakel, das man nur hier so intensiv erleben kann.
Die autofreie Utopie: Warum 20.000 Besucher jährlich die Fähre nehmen
Lundy ist komplett autofrei – ein Konzept, das auch andere Inseln wie Wangerooge in der Nordsee verfolgen, doch hier bietet es eine noch intimere Erfahrung. Jeder Meter der Insel muss zu Fuß erkundet werden, was die Entschleunigung perfekt macht.
Das extreme Verhältnis von Einwohnern zu Besuchern kennen auch andere europäische Naturidyllen wie Geiranger in Norwegen, doch auf Lundy verteilen sich die Besucher auf das ganze Jahr. Selbst in der Hochsaison fühlt sich die Insel nie überlaufen an.
Die MS Oldenburg, gebaut 1958, ist mehr als nur Transportmittel – sie ist Teil des Erlebnisses. Die zweistündige Überfahrt ab Bideford oder Ilfracombe wird oft von Delfinen begleitet, die neben dem Schiff herschwimmen.
Insider-Zugang: Sommergeheimnisse eines englischen Meeresschutzgebiets
Der perfekte Besuchszeitraum ist jetzt – von Juni bis Oktober. Im Gegensatz zu größeren Atlantikinseln wie Île de Ré in Frankreich, die jährlich Hunderttausende Besucher bewältigen, setzt Lundy auf strenge Zugangsbeschränkungen.
Mein Insider-Tipp: Besuchen Sie Jennys Cove am frühen Morgen für die beste Papageitaucher-Beobachtung. Übernachten Sie mindestens eine Nacht auf der Insel – von den 23 Unterkünften empfehle ich den alten Leuchtturm mit seinem atemberaubenden Panoramablick.
Die Marisco Tavern, das einzige Restaurant und Pub der Insel, serviert hervorragendes lokales Essen, darunter das berühmte „Lundy Lamb“ – Premium-Schafsfleisch aus nachhaltiger Inselzucht. Reservieren Sie unbedingt im Voraus, besonders wenn Sie am 8. Juli den einzigartigen Lundy-Halbmarathon erleben wollen.
Während meine Frau Sarah die letzten Fotos der untergehenden Sonne über dem Atlantik macht, denke ich daran, wie dieser felsige Außenposten die perfekte Metapher für Großbritanniens Beziehung zum Meer ist: stürmisch, widerstandsfähig und voller Geschichten. Für alle, die dem Massentourismus entfliehen möchten, ist Lundy nicht nur eine Insel – es ist ein Zufluchtsort für die Seele.